Es scheint, als hätten wir alle diese besonderen Tage im Leben – Tage, an denen sich die Weichen unseres Weges unwiderruflich verschieben, ob wir es wollen oder nicht. Jeder von uns hat wohl mindestens einmal bewusst einen solchen Tag erlebt, der zu einem Übertritt wurde. Einen Übertritt in etwas, das weder geplant noch angestrebt war, das sich aber unausweichlich vor uns auftat. Zurückgehen war keine Option, stehenbleiben auch nicht. Und so gebar die Notwendigkeit plötzlich einen Mut, der bis dahin gefehlt hatte. Schmerz, der uns zuvor noch kämpfen ließ, bricht uns schließlich nieder – und obwohl der Zusammenbruch an Ort und Stelle geschieht, werden wir trotzdem auf merkwürdige art nach vorne geschleudert.
An solchen Tagen verändert sich alles.
Doch vor allem verändern wir uns selbst.
Oft erkennen wir erst viel später, dass dieser Augenblick das Leben in zwei Hälften geteilt hat. Rückblickend entsteht eine neue Zeitrechnung: davor und seitdem. Diese unsichtbaren Reiter ordnen fortan unsere Erfahrungen und Erinnerungen.
Solch ein Tag beginnt meist unspektakulär, fast beiläufig, wie jeder andere. Erst im Rückblick zeigt er sich – mal als unfreundlicher Schlag, mal als liebevoller Schubs in eine neue Richtung. Doch was er wirklich tat, war nicht, uns zu verändern, sondern uns näher zu dem zu bringen, wer wir immer schon waren. Dieser Tag markiert den Beginn einer Reise – einer Reise zu uns selbst, zu einem authentischeren Leben, zurück zu unserem Ursprung. Es ist ein Anfang, den wir nie wollten, ein Weg, den wir nie gewählt hätten. Und doch würden wir ihn, trotz aller Mühen, immer wieder gehen.
An diesen Tagen wünschen wir uns manchmal, nicht gesehen zu haben, was uns offenbart wurde. Denn mit Erkenntnis kommt Unumkehrbarkeit: Was wir einmal erkannt haben, können wir nicht mehr verdrängen. Natürlich könnten wir uns selbst etwas vormachen, könnten versuchen, unsere Augen zu verschließen – vor uns und vor anderen. Doch die Wahrheit bleibt. Und jede Lüge, die wir uns erzählen, fühlt sich wie ein Verrat an, der tiefer schmerzt, je bewusster wir ihn wahrnehmen.
Manchmal sehnen wir uns nach unserer einstigen Blindheit zurück, nach der Sicherheit des Nicht-Wissens. Aber das Vergessen bleibt uns verwehrt. So stehen wir, fast verstört, vor diesem Moment, vor uns selbst. Wir fühlen, wie all das, woran wir geglaubt haben, sich auflöst und verschwindet, was wir festhalten wollten.
Ein solcher Moment ereilte mich im Sommer 2021 in Italien. Der steile, unwegsame Pfad vor mir zog sich unter der erbarmungslosen Mittagssonne in die Höhe. Schweiß rann mir über die Stirn, während die Erkenntnis in mir aufstieg, dass ich nun einfach zu viel wusste. Blinde Flecken, die ich zuvor ignorieren konnte, hatten sich plötzlich unübersehbar offenbart, und eine quälende Frage schlich sich ein: Was würde überhaupt bleiben, wenn man all diese sichtbar machen würde?
Eines war klar: Es war nicht meine Aufgabe, diese Frage zu stellen. Es war auch nicht meine Aufgabe, Ordnung in das Chaos zu bringen. Ich konnte keine Bedingungen stellen an etwas, das bedingungslos sein musste, um Liebe genannt zu werden. Als Retterin hätte ich mich erhoben – und auch das hätte der Liebe ihre Wahrheit genommen. Weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, hätte mich zum Gönnerin gemacht und ebenfalls die Gleichwertigkeit geopfert, die aber doch Liebe erst möglich macht.
Was blieb, war mein Rückzug – ein Rückzug, der mich zwangsläufig in die Rolle eines Opfers drängen würde. Als Opfer war ich der Liebe natürlich nicht würdig. Dennoch fühlte sich Selbstaufgabe wie die vertrauenswürdigste Lösung an. Mich selbst zu opfern, war mir vertraut. Und so war ich sicher, dass mein Rückzug der beste Weg war, auch wenn dabei mein Herz in tausende Scherben zerspringen würde – Scherben, die ich eine halbe Ewigkeit würde suchen müssen. Ungewiss, ob ich sie dann überhaupt zusammenzusetzen in der Lage wäre.
Ich hielt inne und wandte mich zurück ins Tal. Trotz der brennenden Hitze fröstelte es mich. In meinem Nacken spürte ich den stillen Hass und den kalten Neid. Ich kannte dieses Gefühl, aber hatte nicht vorgehabt, es jemals wieder – und schon gar nicht an so einem schönen Ort – spüren zu müssen.
Manche Menschen tun alles, um ihren Status quo zu bewahren – selbst wenn dieser alles andere als erhaltenswert ist. Manchmal wäre es eine Erlösung, diesen Zustand zugrunde gehen zu lassen, doch sie klammern sich daran, als hinge ihr Leben davon ab. Ich bedauerte, dass ich nicht zu jenen gehörte, die mit Illusionen leben können. Wie gerne hätte ich das gekonnt. Stattdessen musste ich wieder einmal gehen, mich einem Spiel entziehen, bei dem es sowieso keine Gewinner geben konnte. Wieder einmal war ich die Verliererin, weil ich loslassen musste, was ich überhaupt nicht verlieren wollte.
Während ich weiter den steinigen Weg hinaufstieg, spürte ich, wie die schöne Zukunft, die ich mir ausgemalt hatte, wie eine Seifenblase zu zerplatzen drohte. Das Gefühl des Angekommenseins, das so echt gewirkt hatte, erschien mir plötzlich nur noch wie eine trügerische Momentaufnahme. Wie gerne hätte ich die Uhr zurückgedreht, die Zeit angehalten.
Fröstelnd und schwitzend zugleich setzte ich meinen Weg fort. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alles hätte nur das zerstört, was ich so sehr bewahren wollte. Doch eines wusste ich mit einer Klarheit, die ich liebend gerne nicht gehabt hätte: Das Ende hatte begonnen.
Diese besonderen Tage sind es, die uns dazu zwingen, Entscheidungen zu treffen, die wir nie treffen wollten. Wir wagen in diesen Momenten, Schritte zu gehen, die wir an keinem anderen Tag hätten machen können.
Vielleicht merken wir es erst nach Wochen oder Jahren, aber dieser Tag beraubte uns eigentlich nur einer Illusion. Er löste eine Täuschung auf, die uns eigentlich ganz gut gefallen hatte. Geschockt und verwirrt erinnern wir uns später an diesen Tag und realisieren, dass er der Auslöser war, für etwas, das viel später zu einer großen Transformation führen würde, aber dort seinen Anfang genommen hatte. Dieser Tag war der Beginn eines „open loops“, den wir irgendwann schließen können werden. Auch wenn es länger dauern würde, als sich gut für uns anfühlte.
Auch heute frage ich mich fast jeden Tag, ob es nicht doch einen anderen Weg hätte geben können. Heute würde ich sprechen und meine Wahrnehmungen teilen. Damals wagte ich das noch nicht und scheute die Konfrontation. Vermutlich hätte es aber nichts geändert, denn trotzdem wäre das „Davor“ unwiederbringlich dadurch Vergangenheit geworden.
Ich opferte also mich selbst und mein Glück, präsentierte mich als Verliererin, zugleich wagte ich damit aber auch den Sprung ins Ungewisse. Ich handelte nach meinen Werten und wagte mich an die Aufgabe, ich selbst zu sein.
ich wünsche dir an Tagen, die dein Leben verändern, ohne dass du diese Veränderung wolltest, dass du stark genug bist, nach vorne zu schauen. Ich wünsche dir die Schwäche, zurückzublicken. Wehmütig vielleicht, denn alle Gefühle dürfen sein, aber auch voller Klarheit, dass alles immer zu deinem besten geschieht. Illusion ist nie eine Lösung, die Wahrheit will immer ans Licht, Freeze ist keine Liebe, Manipulation kreiert nie eine Transformation.